Warum Wissenschaft nicht neutral sein muss
Die Wissenschaft wird oft als objektive und unabhängige Instanz betrachtet, die sich von politischen und gesellschaftlichen Einflüssen fernhält. Doch ist dies wirklich der Fall? Forschungsergebnisse werden oft von wirtschaftlichen und politischen Interessen beeinflusst, was die Neutralität der Wissenschaft in Frage stellt. In diesem Artikel werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, warum die Wissenschaft nicht neutral sein muss und welche Konsequenzen dies für unsere Gesellschaft hat.
Wissenschaft nicht wertfrei, sondern politisch bereichert
Als ich kürzlich mit Sozialwissenschaftlern über mögliche Mitglieder für ein Forschungsnetzwerk diskutierte, hieß es: „Nur keine Aktivisten!“ Die Idee dahinter: Wissenschaftliche Forschung muss wertneutral und politisch abstinent sein. Sie darf nicht dem Druck politischer Aktivisten ausgesetzt sein.
Politische Voreingenommenheit lässt sich aber nicht durch Kontaktsperren verhindern. Auch Wissenschaftler sind Menschen – sie haben Wertvorstellungen und politische Präferenzen. Diese fließen immer in ihre Forschung ein. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven wichtig.
Politische Voreingenommenheit in der Forschung: ein notwendiger Prozess?
Die Begegnung von konservativen Fachvertretern mit progressiven politischen Aktivisten hat nicht selten neue Diskussionen eröffnet und zu Innovationen im Fach und in der Gesellschaft geführt. So ist die Einführung oder Abschaffung von Krankheitsbildern in den psychiatrischen Fachgesellschaften, etwa die Streichung von Homosexualität als Krankheitsbild oder die Entwicklung neuer Kategorien wie der Posttraumatischen Belastungsstörung, nicht auf neue Forschungsergebnisse zurückzuführen.
Diese fachinternen Revisionen von Krankheitskategorien gehen auf die politischen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre zurück. Sie wurden von Vertretern der Schwulenbewegung, Feministinnen und Veteranen der Anti-Vietnam-Bewegung vorangetrieben, die in den USA direkten Druck auf die psychiatrische Fachgesellschaft ausübten.
Der Psychiatrie als Wissenschaft hat das nicht geschadet, im Gegenteil. Aber die neuen Impulse mussten in die Fachsprache übersetzt werden. Dann konnten sie zur Kritik an bestehenden Kategorien genutzt und ihrerseits empirisch überprüft und kritisiert werden. Das hat in den 70er-Jahren gut funktioniert. Heute ist die Atmosphäre eine andere. Der Grund: Über die sozialen Medien lassen sich schnell Kampagnen organisieren. Die Angst der Wissenschaftler vor Skandalisierungen führt dazu, dass man lieber unter sich bleibt.
Unsere Autorin ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Pflanzenbiologin Petra Bauer und der Biochemikerin Birgit Strodel ab.
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